Yahya Sinwar

Leiter der Hamas im Gazastreifen

Yahya Sinwar, dt. Jahia oder Jahja Sinwar (arabisch يحيى إبراهيم حسن السنوار, DMG Yaḥyā Ibrāhīm Ḥasan as-Sinwār; * 1962 in Chan Yunis, Gazastreifen),[1] ist ein palästinensischer Politiker und Terrorist. Er ist seit 2017 einer der Führer der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gazastreifen.[1][2]

Yahya Sinwar (2012)

Er ist der ranghöchste Hamas-Führer in Gaza und der De-facto-Herrscher des Gazastreifens sowie das zweitmächtigste Mitglied der Hamas nach Ismail Haniyya.[3] Sinwar gilt als Planer hinter dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel 2023.[4][5]

Leben

Herkunft und Ausbildung

Yahya Sinwar wurde 1962 als Yahya Ibrahim Hassan al-Sinwar im Flüchtlingslager Chan Yunis geboren, als der Gazastreifen unter ägyptischer Herrschaft stand, wo er seine frühen Jahre verbrachte. Seine Familie wurde während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 aus dem palästinensischen Dorf Al-Majdal (heute Aschkelon) vertrieben und suchte Zuflucht im Gazastreifen. Nach seinem High-School-Abschluss an der Khan Yunis Secondary School for Boys studierte er an der Islamischen Universität Gaza, wo er einen Bachelor in Arabistik erwarb.[3] Er soll den Koran auswendig können.[6]

Mohammed Deif, heute militärischer Befehlshaber der Qassam-Brigaden, soll ein Kindheitsfreund sein.[5] Sein jüngerer Bruder ist Mohammed Sinwar, ein Militärführer der Hamas.[7]

Frühe Aktivitäten bei der Hamas und israelische Haft

Zuerst wurde er 1982 während seines Studiums verhaftet und befand sich mehrere Monate in Haft.[7] Im Gefängnis schloss er Freundschaften mit anderen palästinensischen Aktivisten und beschloss, sich ganz der „Sache Palästinas“ zu widmen.[3] Aufgrund seiner Aktivitäten bei al-Madschd wurde er 1985 erneut für acht Monate inhaftiert.[7]

Er war im Dezember 1987 bei der Gründung der Hamas dabei.[5] In den 1980er-Jahren beteiligte er sich am Aufbau der internen Sicherheitskräfte der Hamas (al-Madschd).[7] Speziell war Sinwar an der Gründung des gefürchteten internen Geheimdienstapparats für Spionage und Informanten verantwortlich und ist dadurch als Kraft gegen abweichende Meinungen und politische Opposition aufgetreten.[8][9]

Im Jahr 1988 wurde er erneut verhaftet und im selben Jahr für schuldig befunden, an der Ermordung von zwei israelischen Soldaten und vier Palästinensern beteiligt gewesen zu sein, die der Kollaboration mit Israel verdächtigt wurden. Sinwar wurde zu viermal lebenslanger Haft in einem israelischen Gefängnis verurteilt.[8]

Ahmad Yasin, Gründer der Hamas und bis zu seiner gezielten Tötung durch das israelische Militär ihr geistiger Führer, bezeichnete Sinwar 1989 später als seinen wichtigsten Helfer.[5] Während seiner Haft wurde ein Tumor aus seinem Gehirn operativ entfernt.[3] Er blieb in Haft, bis er 2011 zusammen mit 1026 anderen palästinensischen Gefangen im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen wurde.[1][7] Sinwar meinte, er habe die Zeit im Gefängnis damit verbracht, den Feind zu studieren.[3] Im Gefängnis lernte er schnell fließend hebräisch zu sprechen und zu lesen. Er las Bücher über Ben-Gurion, Begin, Rabin und Teile der Tora. Ein Vernehmer schildert ihn als überaus charismatisch und intelligent. Er trat dreimal in einen Hungerstreik um die Haftbedingungen zu verbessern. Man wählte ihn zum Anführer aller Hamas-Gefangenen.[5] Insgesamt befand er sich 24 Jahre in israelischer Haft.

Zeit nach der Haft als Hamas-Führer

Nach seiner Freilassung kehrte Sinwar als hochrangiger Hamas-Führer an seinen Platz zurück.[7] 2014 spielte er bei einem Konflikt zwischen Israel und der Hamas eine wichtige Rolle und entließ nach dem Konflikt einige wichtige Führungspersonen der Hamas.[7] Im September 2015 wurde er zusammen mit Mohammed Deif und Rūhī Muschtahā von den Vereinigten Staaten als Specially Designated Global Terrorist ‚Speziell ausgewiesener globaler Terrorist‘ eingestuft.[1]

2017 wurde Sinwar von der Schūrā der Hamas zum Leiter der Hamas im Gazastreifen gewählt und folgte schließlich Ismail Haniyya (jedoch unter der Führung von Haniyya) in diesem Amt und wurde zudem Mitglied des Politbüros, des wichtigsten politischen Gremiums der Hamas. Chalīl al-Hayya wurde zu seinem Stellvertreter gewählt.[7][10] Er hatte die Aufgabe, die Koordination zwischen der Führung der Qassam-Brigaden (IQB) und dem Politbüro der Hamas zu übernehmen.[7] Offiziell ist zwar Haniyya Leiter des Politbüros, praktisch hat jedoch Sinwar die Kontrolle des Gremiums übernommen.[11] Im März 2021 wurde Sinwar innerhalb der Hamas für weitere 4 Jahre in seiner Funktion bestätigt.[12]

Politik als Anführer der Hamas im Gazastreifen

Im November 2012, während der israelischen Militäroperation in Gaza 2012, traf Sinwar in Teheran mit dem General der Quds-Streitkräfte des Korps der iranischen Revolutionsgarden, Qasem Soleimani, zusammen.[13]

Im Jahr 2015 soll er die Folter und Tötung des Hamas-Mitglieds Mahmoud Ishtiwi beaufsichtigt haben, dem Unterschlagung und Homosexualität vorgeworfen wurden.[14]

Im März 2017 gründete er ein von der Hamas kontrolliertes Verwaltungskomitee für den Gazastreifen, was bedeutete, dass er sich gegen jede Machtteilung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah aussprach. Sinwar lehnt jede Versöhnung mit Israel ab.[15]

Im September 2017 begann in Ägypten eine neue Verhandlungsrunde mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, und Sinwar stimmte der Auflösung des Hamas-Verwaltungskomitees für Gaza zu.[16]

Am 16. Mai 2018 erklärte Sinwar in einer unerwarteten Ankündigung auf Al Jazeera, dass die Hamas „friedlichen Volkswiderstand“ verfolgen werde, was die Möglichkeit eröffnete, dass die Hamas, die von vielen Ländern als Terrororganisation angesehen wird, bei den Verhandlungen mit Israel eine Rolle spielen könnte.[15] Eine Woche zuvor hatte er die Bewohner des Gazastreifens ermutigt, die Gaza-Blockade durch Israel zu durchbrechen, indem er sagte: „Wir würden lieber als Märtyrer sterben, als aus Unterdrückung und Demütigung zu sterben“, und fügte hinzu: „Wir sind bereit zu sterben, und Zehntausende werden mit uns sterben.“[17]

Im März 2021 wurde er in einer Wahl für eine zweite vierjährige Amtszeit zum Leiter der Hamas-Abteilung in Gaza gewählt. Er ist der ranghöchste Hamas-Beamte in Gaza und der De-facto-Herrscher von Gaza sowie das zweitmächtigste Mitglied der Hamas nach Haniyya.[12]

Am 15. Mai 2021 soll ein israelischer Luftangriff das Haus des Hamas-Führers getroffen haben. Es gab keine unmittelbaren Angaben zu Todesfällen oder Verletzten. Der Angriff fand in der Region Chan Yunis im südlichen Gazastreifen statt, inmitten ständig wachsender Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern. In der darauffolgenden Woche trat er jedoch mindestens viermal öffentlich auf.[18]

Während des Hamas-Israel-Kriegs 2023

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 wurde Sinwars Haus in Gaza von israelischen Raketen getroffen.[19] Nach dreiwöchigen Konflikten im Israel-Hamas-Krieg 2023 schlug Sinwar die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in israelischer Haft vor, als Gegenleistung für die Freilassung aller im Konflikt entführten Geiseln.[20] Berichten zufolge besuchte Sinwar die Geiseln in den ersten Tagen des Krieges und versprach ihnen, dass ihnen kein Schaden zugefügt würde.[21] Es ist weiterhin unklar ob Haniyya und die anderen Hamas-Führer über den Angriff am 7. Oktober informiert waren. Das Verhältnis zwischen Haniyya und Sinwar gilt als angespannt.[5]

Nachdem der israelische Militäreinsatz auch auf den südlichen Gazastreifen ausgedehnt wurde, umstellten israelische Militärs nach eigenen Angaben sein Haus in Chan Yunis, während er gleichzeitig im Untergrund im Tunnelsystem des Gazastreifens vermutet wurde.[22]

Nach Angaben von israelischen Medien, sei Sinwar mehrere Male nur knapp der israelischen Armee entkommen[23] und habe sich kurz nach Beginn des Krieges in einem Hilfskonvoi in den Süden des Gazastreifens begeben.[24]

In Flugblättern, die Israel im Dezember 2023 abwarf, wurde ein Kopfgeld von 400.000 Dollar für Informationen über den Aufenthaltsort von Sinwar ausgesetzt. Für Informationen über seinen Bruder Muhammed Sinwar, aktuell Kommandeur südlichen Brigade, setzte man 300.000 Dollar aus. Dazu setzte man 200.000 für Informationen über Rafa’a Salameh, Kommandeur des Khan Younis Battalions und 100.000 für Informationen über Muhammad Deif aus.[25]

Erst im Januar 2024 setzte die EU ihn auf ihre Terrorliste. Bereits im Dezember die EU die Kommandeure Mohammed Deif und Marwan Issa auf die Liste. Der Vorsitzende des Hamas-Politbüros Ismail Haniyya kam hingegen auch im Januar 2024 nicht auf die Liste.[26]

Im Mai 2024 gab der Chef-Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Ahmad Khan, bekannt, dass gegen Sinwar und den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie weitere Mitglieder der Hamas und der israelischen Regierung ein Haftbefehl auf Grund von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt wird.[27][28]

Außenpolitik

Unter seiner Führung verbesserten sich die Außenbeziehungen der Hamas insbesondere zu Ägypten.[1] Sinwar wird als Befürworter engerer Beziehungen zum Iran betrachtet. Unter seiner Führung wurden die Kontakte mit dem Iran und dessen Verbündeten intensiviert. Im November 2012 fand ein Treffen in Teheran mit dem General der iranischen Revolutionsgarden Qasem Soleimani, statt.[13] Nach seiner Wahl zum Anführer der Hamas in Gaza im Jahr 2017 hat Sinwar eine engere Zusammenarbeit zwischen Hamas, Hisbollah und dem Iran gepflegt.[29]

Sinwar befürwortete eine Versöhnungspolitik mit der konkurrierenden Fatah-Partei. Er entsandte Vertreter zu dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas von der Fatah, kündigte an, jeden zu bestrafen, der den Versöhnungsprozess mit der Fatah behindere, und schlug vor, die Qassam-Brigaden in die Palästinensische Autonomiebehörde zu integrieren.[1]

Commons: Yahya Sinwar – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise