Partielle Ableitung
In der Differentialrechnung ist eine partielle Ableitung die Ableitung einer Funktion mit mehreren Argumenten nach einem dieser Argumente (in Richtung dieser Koordinatenachse). Die Werte der übrigen Argumente werden also konstant gehalten.
Definition
Erster Ordnung
Sei eine offene Teilmenge des euklidischen Raums
und
eine Funktion. Sei weiterhin ein Element
in
gegeben. Falls für die natürliche Zahl
mit
der Grenzwert
existiert, dann nennt man ihn die partielle Ableitung von nach der
-ten Variablen
im Punkt
. Die Funktion
heißt dann im Punkt
partiell differenzierbar. Hierbei wurde
als Standardbasis des
verwendet.
Das Symbol ∂ (es ähnelt dem kursiven Schnitt der kyrillischen Minuskel д) wird als oder zur Unterscheidung auch del ausgesprochen. Die Schreibweise
wurde durch Verwendung von C. G. J. Jacobi bekannt.[1]
Oft wird auch die Notation verwendet, um den Auswertungspunkt
zu kennzeichnen.
Dem gegenüber existiert in der Technischen Mechanik eine andere Schreibweise, bei der die Richtung der Funktion mit einem Komma im Index angezeigt wird, um von der Richtung des Arguments der Funktion zu unterscheiden: So ist die Ableitung der Verschiebung (also die Verschiebung in
-Richtung) folgendermaßen gleich
. Analog dazu wäre
die Ableitung in
-Richtung einer Verschiebung in
-Richtung.[2]
Höhere Ordnung
Die partielle Ableitung nach ist selbst wieder eine Funktion von
nach
, falls
in ganz
nach
partiell differenzierbar ist. Als abkürzende Schreibweise für die partiellen Ableitungen
ist auch oft
,
,
oder
zu finden.
Ist die Funktion in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs partiell differenzierbar, so sind die partiellen Ableitungen
wieder Funktionen von nach
, die ihrerseits auf Differenzierbarkeit untersucht werden können. Man erhält so höhere partielle Ableitungen
und
.
Verallgemeinerung auf vektorwertige Funktionen
Sei offen und
ein normierter Raum und
eine Funktion. Die partielle Ableitung von
nach der
-ten Variable
in
ist dann (wie für
) definiert als
falls dieser Grenzwert, der bzgl. der Norm auf
aufgefasst werden muss, existiert.
Ist so ist die Wahl der Norm beliebig, da in endlich-dimensionalen Vektorräumen alle Normen äquivalent sind. Vor allem die Fälle
und
(versehen mit einer beliebigen Norm) sind von besonderem Interesse. Hierbei wurde die übliche Notation
oder
verwendet.
Auch höhere Ableitungen lassen sich komplett analog auf verallgemeinern.
Verallgemeinerung auf Matrixfunktion
Sei offen und
ein normierter Raum und
eine Funktion. Sei weiterhin ein Element
gegeben. Seien
mit
und
dann nennt man den Grenzwert
die partielle Ableitung von nach
im Punkt
, falls dieser in
existiert.
heißt in diesem Fall partiell differenzierbar an der Stelle
. Hierbei werden die Basisvektoren
als Spaltenvektoren aufgefasst und entsprechend sind alle Koeffizienten der Matrix
gleich
außer dem Koeffizient
.
Identifiziert man die offenen Menge mit einer offenen Menge
und
durch eine Funktion
, so lassen sich alle Regeln für partielle Ableitungen von
auf
übertragen. So lassen sich auch hier beispielsweise höhere partielle Ableitungen bilden und es gelten die unten stehenden Sätze und Eigenschaften.
Geometrische Deutung
In einem dreidimensionalen Koordinatensystem wird der Funktionsgraph einer Funktion betrachtet. Der Definitionsbereich
sei eine offene Teilmenge der xy-Ebene. Ist
differenzierbar, dann ist der Graph der Funktion eine Fläche über dem Definitionsbereich
.
Für einen festen Wert von ist dann
eine Funktion in
. Bei festem
ergeben die Punkte
eine Strecke parallel zur
-Achse. Diese Strecke wird von
auf eine gekrümmte Linie auf dem Graphen von
projiziert. Die partielle Ableitung von
nach
entspricht unter diesen Voraussetzungen der Steigung der Tangente an diese Kurve im Punkt
.
Sätze und Eigenschaften
Zusammenhang Ableitung, partielle Ableitung, Stetigkeit
- Total differenzierbare Funktionen sind stetig.
- Total differenzierbare Funktionen sind partiell differenzierbar.
- Partiell differenzierbare Funktionen sind nicht notwendigerweise stetig und damit auch nicht notwendigerweise total differenzierbar.
- Stetig partiell differenzierbare Funktionen, also Funktionen, deren partielle Ableitungen stetig sind, sind dagegen stetig total differenzierbar.
Satz von Schwarz
- Es gilt der Satz von Schwarz: Wenn die zweiten partiellen Ableitungen stetig sind, so kann man die Reihenfolge der Ableitung vertauschen:
Verwendung
- Die ersten partiellen Ableitungen lassen sich in einem Vektor anordnen, dem Gradienten von
:
- Hierbei ist
der Nabla-Operator.
- Die zweiten partiellen Ableitungen lassen sich in einer Matrix anordnen, der Hesse-Matrix
- Es gilt die Taylorformel: Wenn die Funktion
-mal stetig partiell differenzierbar ist, so lässt sie sich in der Nähe jedes Punktes
durch ihre Taylor-Polynome approximieren:
- mit
, wobei das Restglied
für
von höherer als
-ter Ordnung verschwindet, das heißt:
- Die Terme zu gegebenem
ergeben die „Taylorapproximation
-ter Ordnung“.
- Einfache Extremwertprobleme findet man in der Analysis bei der Berechnung von Maxima und Minima einer Funktion einer reellen Variablen (vgl. hierzu den Artikel über Differentialrechnung). Die Verallgemeinerung des Differentialquotienten auf Funktionen mehrerer Variablen (Veränderlichen, Parameter) ermöglicht die Bestimmung ihrer Extremwerte, und für die Berechnung werden partielle Ableitungen benötigt.
- In der Differentialgeometrie benötigt man partielle Ableitungen zur Bestimmung eines totalen Differentials. Anwendungen für totale Differentiale findet man in großem Maße in der Thermodynamik.
- Partielle Ableitungen sind darüber hinaus ein wesentlicher Bestandteil der Vektoranalysis. Sie bilden die Komponenten des Gradienten, des Laplace-Operators, der Divergenz und der Rotation in Skalar- und Vektorfeldern. Sie treten auch in der Jacobi-Matrix auf.
Beispiele
Beispiel 1
![](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/f4/Graph_Paraboloid.gif/220px-Graph_Paraboloid.gif)
Als Beispiel wird die Funktion mit
betrachtet, die von den beiden Variablen
und
abhängt.
Betrachtet man als eine Konstante, z. B.
, so hängt die Funktion
mit
nur noch von der Variablen
ab:
Für die neue Funktion gilt folglich und man kann den Differenzialquotienten bilden
Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man die partielle Ableitung der Funktion nach
bildet:
Die partielle Ableitung von nach
lautet entsprechend:
Dieses Beispiel demonstriert, wie die partielle Ableitung einer Funktion bestimmt wird, die von mehreren Variablen abhängt:
Bis auf eine Variable werden alle anderen Variablen als konstant angenommen, bezüglich dieser einen Variablen wird der Differenzialquotient bestimmt. Als Ergebnis erhält man die partielle Ableitung der Funktion nach dieser einen Variablen.
Beispiel 2
Da die partielle Ableitung nach einer Variablen der gewöhnlichen Ableitung bei festgehaltenen Werten aller anderen Variablen entspricht, können für die Berechnung alle Ableitungsregeln wie bei Funktionen einer Variablen verwendet werden. Ist beispielsweise
,
so folgt mit Produkt- und Kettenregel:
und
.
Beispiel 3
![](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/5/53/Sin_x_plus_cos_y_plot.gif/220px-Sin_x_plus_cos_y_plot.gif)
In der obigen Animation sieht man den Graphen der Funktion . Legt man einen Punkt
aus dem Definitionsbereich fest, so kann man den Graphen der Funktion mit einer senkrechten Ebene in x-Richtung schneiden. Der Schnitt des Graphen mit der Ebene erzeugt einen klassischen Graphen aus der eindimensionalen Analysis. Partielle Ableitungen können so auch anschaulich auf die klassische eindimensionale Analysis zurückgeführt werden.
,
und
.
Partielle und totale Ableitung nach der Zeit
In der Physik (vor allem in der theoretischen Mechanik) tritt häufig die folgende Situation auf: Eine Größe hängt durch eine total differenzierbare Funktion von den Ortskoordinaten
,
,
und von der Zeit
ab. Man kann also die partiellen Ableitungen
,
,
und
bilden. Die Koordinaten eines sich bewegenden Punktes sind durch die Funktionen
,
und
gegeben.Die zeitliche Entwicklung des Werts der Größe am jeweiligen Bahnpunkt wird dann durch die verkettete Funktion
beschrieben.Diese Funktion hängt nur von einer Variablen, der Zeit , ab. Man kann also die gewöhnliche Ableitung bilden.Diese nennt man die totale oder vollständige Ableitung von
nach der Zeit
und schreibt dafür auch kurz
. Sie berechnet sich nach der mehrdimensionalen Kettenregel wie folgt:
Während bei der partiellen Ableitung nach der Zeit nur die explizite Abhängigkeit der Funktion
von
berücksichtigt wird und alle anderen Variablen konstant gehalten werden, berücksichtigt die totale Ableitung
auch die indirekte (oder implizite) Abhängigkeit von
, die dadurch zustande kommt, dass längs der Bahnbewegung die Ortskoordinaten von der Zeit abhängen.
(Indem man also die implizite Zeitabhängigkeit mitberücksichtigt, redet man im Jargon der Physik auch von „substantieller“ Zeitableitung, bzw. im Jargon der Strömungsmechanik von der Euler-Ableitung im Gegensatz zur Lagrange-Ableitung.)
→ Für eine ausführlichere Darstellung siehe totales Differential
Verallgemeinerung: Richtungsableitung
Eine Verallgemeinerung der partiellen Ableitung stellt die Richtungsableitung dar. Dabei wird die Ableitung in Richtung eines beliebigen Vektors betrachtet und nicht nur in Richtung der Koordinatenachsen.
Literatur
- Kurt Endl; Wolfgang Luh: Analysis II, Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt am Main, 1974
- Hans Grauert; Wolfgang Fischer: Differential- und Integralrechnung II, 2., verbesserte Auflage, Springer Verlag Berlin, 1978