Kompetenzgerichtshof

Ein Kompetenzgerichtshof ist ein Gericht (oder eine gerichtsähnliche Behörde) zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten, insbesondere zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden oder zwischen Gerichten untereinander. Für letzteren Fall bestehen auch heute in manchen Staaten noch entsprechende Spruchkörper.

Seit der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Asset Purchase Programme)[1] wird zur Lösung von Konflikten nationaler Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs über die Abgrenzung mitgliedstaatlicher und europäischer Befugnisse (Ultra-vires-Akte) die Errichtung einer besonderen Entscheidungsinstanz, beispielsweise eines europäischen Kompetenzgerichtshofs vermehrt diskutiert.[2]

Deutschland

Zu den mit Gründung des Deutschen Reichs in Kraft getretenen Reichsjustizgesetzen gehörte auch das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) vom 27. Januar 1877. Gem. § 17 Abs. 1 GVG entschieden die Gerichte über die Zulässigkeit des Rechtswegs.[3] Gem. § 17 Abs. 2 GVG konnte jedoch die Landesgesetzgebung die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über die Zulässigkeit des Rechtswegs „besonderen Behörden“ übertragen. Auch das Verfahren musste gesetzlich geregelt werden (§ 17 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 GVG).

Solche besonderen Behörden bestanden bis 1945, in Bayern bis 1981.[4] Antragsberechtigt waren Behörden des jeweiligen Landes, nicht Reichsbehörden, und es gab auch auf Reichsebene keinen Kompetenzgerichtshof. Mindestens die Hälfte der Mitglieder musste dem Reichsgerichte oder dem obersten Landesgericht oder einem Oberlandesgericht angehören (§ 17 Abs. 2 Nr. 2 GVG).

Sofern die Zulässigkeit des Rechtswegs bereits durch rechtskräftiges Urteil eines Gerichts feststand, ohne dass zuvor auf die Entscheidung der besonderen Behörde angetragen war, blieb die Entscheidung des Gerichts maßgebend (§ 17 Abs. 2 Nr. 4 GVG).

Seit 1991 entscheidet das erstinstanzlich angerufene Gericht verbindlich über den zu ihm beschrittenen Rechtsweg. Andere Gerichte sind an diese Entscheidung gebunden (§ 17a Abs. 1, Abs. 5 GVG). Landesrechtliche Vorbehalte über die Errichtung von Kompetenzgerichtshöfen sind entfallen, weil die Möglichkeit von Kompetenzkonflikten nicht mehr besteht. Wird die Klage vor dem sachlich oder örtlich nicht zuständigen Gericht erhoben, erfolgt eine Verweisung an das zuständige Gericht.

Preußen

In Preußen existierte schon seit 1847 der Gerichtshof zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte[5] beim Preußischen Staatsministerium (vgl. Art. 96 der Verfassung von 1850). Von 1854 bis 1879 waren ihm zusätzlich die sog. Konfliktsachen (Vorabentscheidungen bei Amtspflichtverletzungen) übertragen[6] (vgl. Art. 97 der Verfassung von 1850).

Mit den Reichsjustizgesetzen wurde er 1879 zu einer „besonderen Behörde“ im Sinne von § 17 Abs. 2 GVG a. F.;[7] die Konflikte bei Amtspflichtverletzungen gingen auf das Oberverwaltungsgericht über.[8]

Zu einer Auseinandersetzung mit dem Reichsgericht kam es 1899, als dieses in drei Fällen negativer Kompetenzkonflikte dem Kompetenzgerichtshof nicht folgen wollte, weil es selbst den Rechtsweg zuvor bereits verneint hatte und ein Landesgerichtshof diese Entscheidungen nicht aufheben könne.[9][10][11] 1901 schloss das Reichsgericht auch für den Fall des positiven Kompetenzkonflikts die Zuständigkeit des Kompetenzgerichtshofs nach Anhängigkeit der Sache beim Reichsgericht aus.[12] Infolge dieser Auseinandersetzungen wurde 1902 das preußische Recht der Ansicht des Reichsgerichts angepasst.[13]

Unter den Entscheidungen des Kompetenzgerichtshofs sind beispielsweise auch solche zur völkerrechtlichen Staatenimmunität.[14]

Die letzte Sitzung des preußischen Kompetenzgerichtshofs fand im Oktober 1942 statt (Pr. L. 3075 und 3076).

Vorsitzende:

Registerzeichen: Pr. L. (Prozess-Liste)

Entscheidungsverzeichnisse:

Weitere Länder

Österreich

Nach Art. 138 des Bundes-Verfassungsgesetzes erkennt der Verfassungsgerichtshof über Kompetenzkonflikte

  1. zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden;
  2. zwischen ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten oder dem Verwaltungsgerichtshof sowie zwischen dem Verfassungsgerichtshof selbst und allen anderen Gerichten;
  3. zwischen dem Bund und einem Land oder zwischen den Ländern untereinander.[25]

Für Kompetenzkonflikte zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften oder zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden war zuvor das Reichsgericht zuständig.

Frankreich

Siehe: Tribunal des conflits

Türkei

Siehe: Kompetenzkonfliktgericht

Literatur

  • Georg Lemmer: Die Geschichte des preussischen Gerichtshofes zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte. Scientia, 1997, ISBN 3-511-02853-1 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • Franz C. Mayer: Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra-Vires-Akte in Mehrebenensystemen. Eine rechtsvergleichende Betrachtung von Konflikten zwischen Gerichten am Beispiel der EU und der USA. Beck-Verlag, München 2000. Volltext online. Zugl.: Univ.-Diss. LMU München, 1999.

Einzelnachweise