Inkretinmimetika

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Inkretin-Effekt

Inkretinmimetika oder GLP-1-Rezeptoragonisten sind eine Wirkstoffklasse innerhalb der Antidiabetika, die ursprünglich spezifisch zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 entwickelt wurde. Sie ahmen die Wirkung der körpereigenen Hormone Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1) und glukoseabhängiges insulinotropes Peptid (GIP) nach. Diese werden bei Typ-2-Diabetikern vermindert ausgeschüttet, wodurch der Inkretin-Effekt, d. h. die blutzuckersenkende Wirkung, verringert ist. Inkretinmimetika sind Peptide oder Peptidkonjugate, die in der Regel als subkutane Injektion verabreicht werden.

Eine weitere Stoffklasse, deren Vertreter ebenfalls über den Inkretin-Effekt wirken, sind die Gliptine, die durch Hemmung des Enzyms Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) den Abbau von GLP-1 und GIP blockieren.

Diabetes mellitus Typ 2

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Der primäre Einsatzbereich der Inkretinmimetika ist die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2.[1] Wenngleich die American Diabetes Association Metformin als Mittel erster Wahl sieht, ist dennoch die zusätzliche Gabe eines GLP-1-Agonisten bei bestimmten Patienten denkbar. Zu ihnen zählen Patienten mit einer Unverträglichkeit gegenüber Metformin, Patienten mit einem Hämoglobin A1c-Wert, der um mehr als 1,5 % über dem Zielwert liegt, oder Patienten, die innerhalb von drei Monaten ihren Ziel-HbA1c-Wert nicht erreichen, insbesondere, wenn eine Atherosklerose, Herzinsuffizienz oder chronisches Nierenversagen vorliegen.[2]

Adipositas und Übergewicht

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Neben der Behandlung des Typ-2-Diabetes sind einige Inkretinmimetika auch zum medikamentösen Management von Übergewicht und Adipositas zugelassen, in Ergänzung zu Diät und sportlicher Betätigung. Ihre Gabe wird empfohlen, sofern der Body-Mass-Index entweder mindestens 30 kg/m2 beträgt oder aber zwischen 27 und 30 kg/m2 liegt und mit mindestens einer gewichtsbezogenen Komplikation einhergeht.[3]

Potentielle Anwendungsgebiete

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Ebenfalls zeigen Inkretinmimetika stellenweise antidepressive und neuroprotektive Eigenschaften in der Anwendung bei Diabetikern. Da Diabetes einen Risikofaktor für Depressionen darstellt, wäre es auf diese Weise möglich, Depressionen vorzubeugen. Während zwei Studien ein signifikant verringertes Risiko feststellen konnten, wurde in zwei anderen Studien kein derartiger Effekt nachgewiesen.[4]

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

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Die wesentlichen unerwünschten Wirkungen (Nebenwirkungen) sind Übelkeit, Durchfall und Erbrechen.[5]

In klinischen Studien wurde über wenige Fälle von Pankreatitis berichtet.[6] Hinweise aus einer 2013 publizierten Autopsiestudie[7] an Diabetes-Patienten auf ein erhöhtes Risiko für eine schädliche Wirkung von GLP-1-basierten Therapien auf die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) hielten einer Überprüfung durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur nicht stand.[6] Das CHMP kam zu dem Schluss, dass die Autopsiestudie selbst eine Reihe von methodischen Einschränkungen und potenziellen Quellen für Verzerrungen aufwies, die eine aussagekräftige Interpretation der Ergebnisse ausschließen. Nach Prüfung der verfügbaren nichtklinischen und klinischen Daten habe sich die Evidenz hinsichtlich des Risikos unerwünschter Ereignisse der Bauchspeicheldrüse im Zusammenhang mit GLP-1-basierten Therapien nicht geändert.[6]

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) informierte im April 2024, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der Anwendung von GLP-1-Agonisten und dem Auftreten von suizidalen und selbstverletzenden Gedanken und Handlungen nicht nachweisbar sei.[8] Der Pharmakovigilanzausschuss (PRAC) der EMA hatte im Juli 2023 – ausgelöst durch die isländische Arzneimittelbehörde – ein Review-Verfahren eingeleitet, nachdem vereinzelt Meldungen über suizidale Gedanken und Selbstverletzungen bei Menschen eingegangen waren, die Liraglutid oder Semaglutid einnahmen. In diesem Verfahren wurden zusätzlich drei weitere GLP-1-Rezeptoragonisten, namentlich Dulaglutid, Exenatid, und Lixisenatid, ausgewertet.[9] Der Ausschuss analysierte die zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen erhobenen Daten der Arzneimittelhersteller sowie die die Ergebnisse von zwei Studien, von denen eine von der EMA durchgeführt wurde.[8] Die Beurteilung der EMA ist in Übereinstimmung mit den vorläufigen Ergebnissen einer laufenden Bewertung der US-Behörde FDA, die ebenfalls keinen Zusammenhang fand.[10]

Anwendungsbeschränkungen

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Bei schweren Nierenfunktionsstörungen wird die Anwendung von Inkretinmimetika nicht,[11] bei schweren Leberfunktionsstörungen nur mit Vorsicht empfohlen. Für die Anwendung in der Schwangerschaft liegen unzureichende Daten vor.[11]

Tabellarische Übersicht

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NameKurzbeschreibungAgonismusAnwendungsgebieteVerabreichung
ExenatidSynthetisch hergestelltes Polypeptid, das der natürlicherweise im Speichel der Gila-Krustenechse vorkommenden Substanz Exendin-4 entspricht, erstes therapeutisch eingesetztes Inkretinmimetikum und Leitsubstanz der Wirkstoffklasse, 53 % Sequenzhomologie[12] zu GLP-1GLP-1Typ-2-Diabetes (T2DM)2 x täglich oder 1 x wöchentlich (Retard) subkutan
LiraglutidBiotechnologisch hergestelltes Analogon des Inkretins GLP-1 mit 97 % Sequenzhomologie[12] und verlängerter HWZ (13 h)GLP-1T2DM, Gewichtsreduktion1 x täglich subkutan
TaspoglutidGLP-1-AnalogonGLP-1Entwicklung eingestellt-
LixisenatidExenatid-AnalogonGLP-1T2DM; auch in fixer Kombi mit Insulin glargin1 x täglich subkutan
AlbiglutidGLP-1-Analogon und FusionsproteinGLP-1T2DM (Zulassung zurückgenommen)1 x wöchentlich subkutan
DulaglutidGLP-1-Analogon mit 90 % Sequenzhomologie,[12] FusionsproteinGLP-1T2DM1 x wöchentlich subkutan
SemaglutidGLP-1-Analogon, auch als orale Formulierung verfügbar. Angaben des Herstellers zufolge der meistverkaufte GLP-1-Rezeptoragonist (Stand Mai 2023)[13]GLP-1T2DM, Gewichtsreduktion1 x wöchentlich (subkutan),
1 x täglich (oral)
TirzepatidGIP-Analogon mit Zweifach-AgonismusGLP-1, GIPT2DM, Gewichtsreduktion1 x wöchentlich subkutan
RetatrutidGIP-Analogon mit Dreifach-AgonismusGLP-1, GIP, Glucagonexperimentell1 x wöchentlich subkutan
EfpeglenatidExenatidanalogon-Antikörperfragment-KonjugatGLP-1experimentell1 x wöchentlich subkutan
Pseudin-2Aus dem Hautsekret des Großen Harlekinfrosches (Pseudis paradoxa) isoliertes Peptidexperimentell-
Schematische Darstellung der Struktur einiger Inkretinmimetika. Oben: GLP-1 (human) und Analoga. Die Peptidsequenzen werden rekombinant hergestellt. Unten: Exendin-4 (Heloderma suspectum) und synthetische Analoga. Liraglutid ist wie GLP-1 gegen Inaktivierung durch proteolytische Spaltung zwischen A(8) und E(9) empfindlich. Tirzepatid ist in seiner Sequenz außer zu GLP-1 durch entsprechende Aminosäuren (umrandet dargestellt) zudem deutlich zu GIP homolog, woraus ein dualer Wirkmechanismus resultiert. Aminosäuren sind im Einbuchstabencode angegeben.

Zulassungshistorie

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Chronologie der Zulassungen
  • J.Y. Cheang, P.M Moyle: Glucagon-Like Peptide-1 (GLP-1)-Based Therapeutics: Current Status and Future Opportunities beyond Type 2 Diabetes. In: ChemMedChem. Band 13, Nr. 7, 2018, S. 662–671, doi:10.1002/cmdc.201700781.
  • E. Brown, D.J. Cuthbertson, J.P. Wilding: Newer GLP-1 receptor agonists and obesity-diabetes. In: Peptides. Nr. 100, 2018, S. 61–67, doi:10.1016/j.peptides.2017.12.009.
  • eS20–24, PMID 20644202 (englisch).
  • Michael A. Nauck, Daniel R. Quast, Jakob Wefers: GLP-1 receptor agonists in the treatment of type 2 diabetes – state-of-the-art. In: Molecular Metabolism. 2021, Band 46, S. 101102. doi:10.1016/j.molmet.2020.101102.
  • Richard Daikeler, Götz Use, Sylke Waibel: Diabetes. Evidenzbasierte Diagnosik und Therapie. 10. Auflage. Kitteltaschenbuch, Sinsheim 2015, ISBN 978-3-00-050903-2, S. 162–165.

Einzelnachweise

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