Hanna Diyab

syrischer Geschichtenerzähler und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts

Hanna Diyab, auch Antun Yusuf Hanna Diyab (arabisch اَنْطون يوسُف حَنّا دِياب, DMG Anṭūn Yūsuf Ḥannā Diyāb; geboren um 1688 in Aleppo, Osmanisches Reich; gestorben nach 1763 ebenda), war ein syrischer Geschichtenerzähler und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Er schuf die Geschichten Aladin und die Wunderlampe sowie Ali Baba und die vierzig Räuber, die durch die Veröffentlichung des Geschichtenzyklus Les mille et une nuits (Tausendundeine Nacht) durch den französischen Orientalisten Antoine Galland weltweit populär wurden.

Älteste bekannte Handschrift der Tausendundeinen Nacht (arabisches Manuskript des 15. Jahrhunderts)

Lange war Diyab, ein maronitischer Christ, nur durch die Erwähnungen seines Vornamens im Tagebuch von Galland bekannt, doch die Übersetzung und Veröffentlichung des arabischen Manuskripts von Diyabs autobiografischer Reiseerzählung im Jahr 2015 erweiterte das bisherige Wissen über sein Leben. Seither haben literaturwissenschaftliche Bewertungen von Diyabs Beitrag zu Les mille et une nuits, Gallands einflussreicher Version der arabischen Vorlage für Tausendundeine Nacht, ergeben, dass Diyabs literarischer Einfluss von großer Bedeutung für dieses Werk der Weltliteratur ist.

Diyabs Geschichten und Erzählstil entsprechen weit verbreiteten internationalen Märchentypen und wurden zunächst auf Französisch von Galland als angeblich originale Teile der Tausendundeinen Nacht veröffentlicht. Auch wenn Diyabs Erzählungen oft fälschlicherweise als traditionelle arabische Volksmärchen betrachtet werden, geht die Literaturwissenschaft davon aus, dass sie ebenso wie seine Erzählung Von Aleppo nach Paris: die Reise eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwigs XIV. Diyabs Fähigkeiten als orientalischer Erzähler, seine Mehrsprachigkeit und ausgedehnten Reisen in der Welt des damaligen Orients und Okzidents widerspiegeln.

Insgesamt enthalten die in zahlreiche Sprachen übertragenen Ausgaben von Tausendundeine Nacht zehn seiner Geschichten, die als teilweise von Diyabs eigenem Leben inspiriert gelten. Deshalb wurde Diyab auch als der „Mann, der die Nächte unsterblich machte“ bezeichnet. Sein autobiografischer Reisebericht gilt darüber hinaus als eine Art Schelmenroman und literaturhistorischer Glücksfall. Als neugieriger Beobachter mit wachem Blick für das Neue und Interessante in den „Ländern der Christen“ schilderte Diyab seine Erlebnisse zwischen den Kulturen als Angehöriger einer im Vergleich zu europäischen Zeitzeugen weit weniger privilegierten, orientalischen Bevölkerungsschicht.

Quellen

Das meiste, was über Diyabs Leben bekannt ist, stammt aus seiner auf Arabisch verfassten Autobiografie, die er 1763 im Alter von etwa 75 Jahren verfasste. Weitere historische Quellen sind Diyabs Ehevertrag von 1717 sowie ein Verzeichnis von Bürgern in Aleppo von 1740.[1] Die Autobiografie wurde 1928 zusammen mit mehreren Manuskripten aus dem Besitz des Aleppiner Priesters Paul Sbath mit der Signatur MS Sbath 254 in die Vatikanische Bibliothek aufgenommen, wobei die ersten Seiten fehlen. Diyabs Erzählung ist ein wertvolles Beispiel für das umgangssprachliche Mittelarabisch aus seiner Heimatstadt Aleppo im 18. Jahrhundert, das vom Aramäischen und Türkischen beeinflusst ist.[2] Sie bezieht sich auf Diyabs Reise von Aleppo nach Paris und zurück in den Jahren 1707 bis 1710 und vermittelt seine Eindrücke aus den besuchten Orten im Nahen Osten, Nordafrika, Kleinasien und der französischen Hauptstadt. Rund 250 Jahre nachdem Diyab sein Manuskript verfasst hatte, wurde es 1993 in der Vatikanischen Bibliothek identifiziert und weitere zweiundzwanzig Jahre später zum ersten Mal durch drei französische Literaturwissenschaftler übersetzt.[3]

Frühes Leben in Syrien und Reise nach Frankreich

Aleppo im 18. Jahrhundert (Abbildung aus: Alexander Drummond – Travels through different cities of Germany, Italy, Greece, and several parts of Asia, 1754)

Diyab wurde um 1688 in der bedeutenden Handelsstadt Aleppo im osmanischen Syrien als Sohn einer einfachen maronitisch-christlichen Familie geboren und verlor seinen Vater bereits in jugendlichem Alter. Als junger Mann arbeitete Diyab für französische Kaufleute, die in Aleppo Handelsniederlassungen unterhielten und lernte dabei Französisch und Italienisch. Galland zufolge verfügte er auch über Kenntnisse der provenzalischen und türkischen Sprache.

Diyab trat kurzzeitig als Novize in ein maronitisches Kloster im Libanon ein, das er jedoch bald danach wieder verließ. Als er mit knapp 20 Jahren Anfang 1707 nach Aleppo zurückkehrte, traf er den Franzosen Paul Lucas, der im Auftrag des französischen Königs Ludwig XIV. eine Reise in den Orient zur Beschaffung von Antiquitäten unternahm. Lucas lud Diyab ein, mit ihm nach Frankreich zurückzukehren und als sein Diener, Assistent und Dolmetscher zu arbeiten. Darüber hinaus stellte er ihm in Aussicht, in der Königlichen Bibliothek in Paris Arbeit zu finden.

Lucas und Diyab verließen Aleppo im Februar 1707 und reisten über Tripoli, Sidon, Beirut und Zypern nach Ägypten, von wo aus sie nach Libyen und dann nach Tunesien weiterreisten. Von dort fuhren sie nach Korsika, Livorno, Genua und Marseille, bevor sie Anfang 1708 Paris erreichten, wo Diyab zu einem Besuch in Versailles bei Ludwig XIV. und seinem Hofstaat empfangen wurde. Diyab erregte dort einiges Aufsehen, nicht zuletzt, weil Lucas ihn Nationaltracht tragen und einen Käfig mit zwei Springmäusen aus Tunesien tragen ließ. Nach dem Empfang in Versailles und einem zweijährigen Aufenthalt in Paris kehrte Diyab 1710 nach Aleppo zurück.[4]

Geschichten für Galland

Titelbild des Buchs Aladdin und die Wunderlampe, von Ludwig Fulda mit Illustrationen von Max Liebert, 1912

Während seines Aufenthalts in Paris traf Diyab am Sonntag, dem 17. März 1709, zum ersten Mal den Orientalisten Antoine Galland. Gallands Tagebuch enthält ausführliche Zusammenfassungen von sechzehn Geschichten, die Diyab ihm am 25. März erzählte. In der Folge fügte Galland zehn dieser Geschichten als Fortsetzung seiner zuvor erschienenen französischen Übersetzung eines unvollständigen arabischen Manuskripts von Tausendundeiner Nacht hinzu. Diese Fortsetzungen enthalten einige der Geschichten, die in der späteren Rezeption des Werks besonders populär wurden. Diyab hatte diese und mehr als ein Dutzend andere Geschichten Galland in Paris zunächst auf Arabisch erzählt, der sie daraufhin als angeblich authentische Teile des Geschichtenzyklus auf Französisch veröffentlichte.[5] Gallard konnte damit die ersten Bände seiner erfolgreichen Übersetzungen um weitere ergänzen, ohne dass Diyab jemals von diesem Plagiat seiner Geschichten erfuhr.

Ungeachtet seiner Leistungen als begabter Geschichtenerzähler und Quelle für besonders beliebte Geschichten fand Diyab weder im Frankreich des 18. Jahrhunderts noch lange Zeit danach Anerkennung: Er wurde im 1712 veröffentlichten Reisebericht von Lucas,[6] den Diyab seinen „Meister“ nannte, überhaupt nicht und in Gallands Tagebuch lediglich als „der Maronit Hanna aus Aleppo“ erwähnt.[7] Diyabs Autobiografie zufolge befürchtete Galland, dass Diyab eine Stelle in der Königlichen Bibliothek bekommen könnte, für die er sich selbst beworben hatte, und Galland habe deshalb entschieden, Diyab nach Aleppo zurückzuschicken.[8]

Späteres Leben

Im Anschluss an seine Rückkehr nach Aleppo im Jahr 1710 wurde Diyab von seinem Bruder Abdallah in dessen Laden als Tuchhändler aufgenommen. Er heiratete 1717, verfasste seine Reiseerzählung 1764 als Rückblick im fortgeschrittenen Alter von etwa 75 Jahren und lebte „als Familienvater und gestandener alter Tuchhändler im Basar von Aleppo.“[9]

Rezeption

Nach der ersten Übersetzung ins Französische diente diese als Vorlage für eine deutsche Version, die 2016 unter dem Titel Von Aleppo nach Paris veröffentlicht wurde.[10] Die Literaturwissenschaftler Ruth B. Bottigheimer und Paulo Lemos Horta argumentierten aufgrund ihrer Untersuchungen der Tagebücher Gallands sowie von Diyabs Autobiografie, dass dieser als der ursprüngliche Autor einiger der von ihm überlieferten Geschichten angesehen werden muss.[11] Darüber hinaus vermuten sie, mehrere der Geschichten seien teilweise von Diyabs eigenem Leben inspiriert worden, denn sie ließen Parallelen zu seiner Autobiografie erkennen.[12] Weiterhin erlaube die Autobiografie umfassende Einblicke in weitere Aspekte von Diyabs Welt, obwohl sie möglicherweise nicht nur Diyabs eigene Erfahrungen widerspiegelt, sondern auch sein erlerntes Wissen über die Orte und Kulturen, denen er begegnete, sowie über sein Geschick in der mündlichen Erzähltradition des Nahen Ostens. So betonte auch eine Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die dramaturgischen Einfälle des Autors, indem er im Stil der Tausendundeinen Nacht „Informationen zurückhält, Schicksalswendungen und Nebenstränge verfolgt.“[13]

In seinem ausführlichen Nachwort zur deutschen Ausgabe von Diyabs Reisebericht nennt der französische Historiker Bernard Heyberger diesen „dank seiner erzählerischen Qualitäten, der reichhaltigen Beobachtungen und der Vertrautheit, die er mit dem Leser durch die Schilderung seiner Eindrücke und Gefühle herstellt, ein einzigartiges Dokument.“ Dabei betont er den persönlichen Stil Diyabs, der durch die lebhafte Redeweise des orientalischen Erzählers geprägt sei und bei volkstümlichen Versammlungen in den Kaffeehäusern und Gärten Aleppos beliebt war. Mit Hinweis auf Diyabs einfache soziale Herkunft, sein Ichbewusstsein und seine Darstellung der europäischen Personen und Begebenheiten stellt der Reisebericht laut Heyberger ein frühes Beispiel in der syrischen Literatur für die Perspektive „von unten nach oben, [aus] dem Standpunkt des Subalternen“ dar. Durch seine frühe Bekanntschaft mit europäischen Kaufleuten und ihren Sprachen fühlte sich Diyab nicht stets als lediglich einer völlig andersartigen, orientalischen Kultur zugehörig. Vielmehr habe er zahlreiche Erlebnisse als selbstsicherer Mittelsmann beschrieben, der im Dienste von respektablen europäischen Reisenden und Wissenschaftlern auftrat.[14]

Aufgrund von Diyabs Beiträgen, „die in der enthusiastischen Rezeption von Gallands Werk die größte Rolle spielen“, nannte ihn der Islamwissenschaftler Ulrich Marzolph „den Mann, der die Nächte unsterblich machte.“ Die folgende Aufstellung von Marzolph führt diejenigen Geschichten in englischer Bezeichnung auf, welche Diyab Galland erzählt hatte und die später größtenteils in Gallands Les mille et une nuits erschienen:[15]

Datum (in 1709)TitelAarne–Thompson classification systems TypusNummer bei GallandNummer bei Chauvin[16]
25. März'several very beautiful Arabic tales'
5. MaiAladdin561Band 9.2No. 19
6. MaiQamar al-dīn and Badr al-Budūr888
10. MaiThe Caliph’s Night AdventuresFrame tale, containing the following threeBand 10.1No. 209
Blind Man Bābā ʿAbdallāh836F*Band 10.2No. 725
Sīdī Nuʿmān449Band 10.3No. 371
Alī al-ZaybaqShort mention only
13. MaiThe Ebony Horse575Band 11.3No. 130
15. MaiThe Golden City306
22. MaiPrince Ahmed and the Fairy Perī-Bānū653A+465Band 12.1No. 286
23. MaiThe Sultan of Samarkand and His Three Sons550+301No. 181
25. MaiThe Two Sisters Who Envied Their Cadette707Band 12.2No. 375
27. MaiThe Ten Viziers875D*No. 48
Ali Baba676+954Band 11.1No. 241
29. MaiKhawājā Hasan al-Habbāl945A*Band 10.4No. 202
Alī Khawājā and the Merchant of Bagdad1617Band 11.2No. 26
31. MaiThe Purse, the Dervish’s Horn, the Figs, and the Horns566
2. JuniHasan the Seller of Herbal Tea

Ausgaben und Bearbeitungen

  • Diyab, Hanna, Von Aleppo nach Paris: die Reise eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwigs XIV. ; unter Berücksichtigung der arabischen Handschrift aus der französischen Übertragung übersetzt von Gennaro Ghirardelli, Berlin: Die Andere Bibliothek, 2016, ISBN 978-3-8477-0378-5
  • Diyab, Hanna, Ali Baba und die 40 Räuber – neu erzählt. Erzählt von Judy Winter. Audio-Download. Leipzig: Zweitausendeins, 2022, ISBN 978-3-96318-166-5
  • Dyâb, Hanna, Min Halab ila Baris: Rihla ila Bilat Luwis Arrabi' 'Ashir, ed. by Mamede Jarouche and Safa A.-C. Jubran (Beirut/Baghdad: Al-Jamal, 2017) [Kritische Edition auf Arabisch]
  • Diyāb, Ḥannā, The Book of Travels, hrsg. von Johannes Stephan, übersetzt von Elias Muhanna, 2 Bände (New York: New York University Press, 2021)
  • Ulrich Marzolph und Anne E. Duggan, 'Ḥannā Diyāb's Tales', Marvels & Tales 32.1 (2018), 133–154 (part I); 32.2 (2018) 435–456 (part II) [Englische Übersetzung von Gallands Version der Erzählungen Diyabs].
  • 'Hanna Diyab Tales, as transcribed by Galland in his Diary', übersetzt von Ulrich Marzolph und Anne E. Duggan, hrsg. von Paulo Lemos Horta, in The Annotated Arabian Nights: Tales from 1001 Nights, trans. by Yasmine Seale, ed. by Paulo Lemos Horta (New York: Liveright, 2021), S. 523–96, ISBN 978-1-63149-363-8.
  • Katalogeintrag und Digitalisat der Vatikanischen BibliothekSbath.108 [ein Manuskript, das wahrscheinlich von Diyab geschrieben wurde].
  • Katalogeintrag und Digitalisat der Vatikanischen Bibliothek, Sbath.254 [Diyab's Autobiografie-Manuskript als digitales Faksimile].

Literatur

Einzelnachweise